Am „Institut für zeitgenössische Wissenschaften“ haben Wissenschaftler ein ganz besonderes Studienobjekt: einen Werwolf, der in den umliegenden Wäldern gefangen wurde. Als die Studentin Margot ihr Praxissemester beginnt, wird sie als Frau damit betraut, den Werwolf zu versorgen. Somit verbringt sie mehr Zeit mit dem Werwolf als die Wissenschaftler, die sich darüber streiten, ob es sich um ein Tier, einen Menschen oder ein hybrides Wesen handelt. Eines Tages spricht der Werwolf plötzlich mit Margot, sodass die beiden sich besser kennenlernen und eine Beziehung zueinander aufbauen. Während Margot den Werwolf, der Versailles heißt, fasziniert beobachtet und alles notiert, verzweifeln die Wissenschaftler immer weiter, denn sie haben alles gemessen und berechnet, kommen aber trotzdem zu keinem Ergebnis: Was ist dieses Wesen? Warum existiert es? Um mehr Daten zu sammeln, werden Jäger losgeschickt, die das Rudel im Wald suchen und fangen sollen, während an Versailles schmerzvolle Experimente durchgeführt und ihr Körper ausgestellt wird.
Schließlich hat Margot Mitleid mit Versailles und befreit sie. Gemeinsam kehren sie in den Wald zu Versailles‘ Rudel zurück, wo Margot für ihre Forschung jedes Mitglied nach seinem Leben vor der ersten Verwandlung in einen Werwolf befragt. Als sich die Jagd auf das Rudel zuspitzt, geht Margot mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit: Mittels Plakate, Flyern und einer Demonstration klärt sie die Menschen über die Werwölfe auf und fordert Akzeptanz. „Es geht mir darum, euch sichtbar zu machen, so wie ihr wirklich seid. So, wie ihr gesehen werden wollt. Damit man euch endlich versteht.“, sagt Margot zu dem Werwolf Rémy. Letztlich ist es die Liebe des Bürgermeisters zu seiner Tochter Louise, die seit kurzem auch ein Werwolf ist, die verhindert, dass dem Rudel Gewalt angetan wird.
Die zwei Welten in dieser Graphic Novel unterscheiden sich bereits durch die Farbwahl: Der städtische Schauplatz ist in Brauntönen dargestellt, der Wald der Werwölfe hingegen in Grüntönen. Kröger nutzt zwar Panels, führt die Zeichnungen aber oft kraftvoll über die Ränder hinaus oder verzichtet zugunsten der Figuren ganz auf einengende Rahmen. Details sind oftmals nicht ausgearbeitet, Konturen verschwinden ineinander, Schatten verdunkeln Einzelheiten. So bleiben bei den Betrachter:innen Leerstellen, die zu mehrmaligem genauen Hinschauen und zu eigener Fantasie auffordern.
Was Noëlle Kröger in dieser Graphic Novel mittels einer Fabel erzählt, ist die Geschichte vom Anderssein. Menschen, die von der Norm abweichen, neue Wege gehen, nicht ins Schema passen, werden erforscht und ihre Existenzberechtigung wird angezweifelt. Da Kröger selbst nichtbinär ist, kann „Meute“ als Analogie für die Akzeptanz der LGBTQ+-Szene gelesen werden. In vielen Gesellschaften ist eine Abweichung von Heterosexualität strafbar oder es sind nur zwei Geschlechter erlaubt. Menschen, die nicht in dieses Schema passen, kämpfen um Toleranz, Akzeptanz, Verständnis und Frieden, wie der unter die Haut gehende Dialog zwischen Mensch und Werwolf am Ende des Buches zeigt: „Hätten wir etwas anders machen können?“ Ein Werwolf antwortet: „Ich weiß nicht. Bestimmt. Aber noch wahrscheinlicher: Nein.“ Und schlussendlich die Frage auf dem letzten, ganzseitigen Panel, die an die Leser:innen weitergegeben wird: „Oder?“
Aufgrund der anspruchsvollen Thematik und den teils düsteren Zeichnungen empfiehlt sich ein Lesealter ab 15 Jahren.
Noëlle Kröger: Meute. Berlin: Reprodukt, 2024.